Die 1970er und 1980er Jahre in West-Berlin können kaum ohne Kenntnis der Ereignisse der späten 1960er Jahre verstanden werden. Im Westen der geteilten Stadt war die Studentenbewegung der „68er“ besonders einflussreich gewesen. Wichtige Personen der Zeit, wie der DDR-„Republikflüchtling“ und sog. „Studentenführer“ Rudi Dutschke, wirkten von dort ihren Einfluss auf das gesamte Bundesgebiet aus. Anfang der 1970er Jahre hatte die politische Bewegung allerdings ihren Schwung verloren. Einerseits lag dies an Tendenzen zur Radikalisierung bis hin zum Terrorismus, nicht zuletzt ging aus ihr die „Bewegung 2. Juni“ und letztlich die RAF hervor, andererseits am Zerschellen ihrer Ideale an der Realität der bundesrepublikanischen Mehrheitsgesellschaft – die erhoffte Solidarisierung breiter Bevölkerungsteile blieb aus. Die einst hochgesteckten Ziele bis hin zur Weltrevolution wurden zusehends gegen den Aufbau „alternativer“ Lebensweisen und ihrer zugehörigen Strukturen eingetauscht. So begann in den frühen 1970er Jahren die Hochzeit der Kollektivkneipen, Kinderläden, Bauwagensiedlungen und Hausbesetzungen.
Einen ungewollten finanziellen Anschub erhielt diese Entwicklung aus der immensen Förderung der Stadt durch die Bundesrepublik. So gab es Pauschalen und Unterstützungsgelder, nicht zuletzt auch die Befreiung von der Wehrpflicht, für die Bewohner und Bewohnerinnen, welche sich zum Teil allein durch die Meldung eines dortigen Wohnsitzes rechtfertigten. All dies trug dazu bei, dass sich West-Berlin zum Anzugpunkt für Individualisten und Andersdenkende aus dem deutschsprachigen Westen, und in Folge der ganzen Welt, entwickelte.
Anfang der 1970er Jahre galt West-Berlin, die Stadt ohne Sperrstunde, als Schmelztiegel und Magnet für unzählige gestrandete Künstlerseelen, für Hedonisten, ewig Reisende und politische Aktivisten jeglicher Couleur. Während vor allem junge Leute, sog. „Aussteiger“ und Studenten, das Stadtbild prägten, fehlte Berlin vielerorts das für die Bundesrepublik typische Bürgerliche – die Familien, die „Mitte“. „Die Stimmung in der Stadt, war extrem, und so haben wir auch gelebt.“, so Esther Friedman rückblickend in einem Interview mit dem „Zeit-Magazin“. Sie war lange Jahre die Freundin von Jim Osterberg aka Iggy Pop, der 1976 zeitgleich mit David Bowie nach Berlin kam. Bis 1978 wohnten diese in der Hauptstraße 155 im Stadtteil Schöneberg. In West-Berlin, wie im Rest Deutschlands, waren die beiden damals nahezu unbekannt und als Musiker höchstens Underground-Phänomene. Und tatsächlich, erinnert sich Friedman, ließen die Passanten Pop und Bowie weitestgehend in Ruhe. Die Präsenz der Stadt, die sehnsüchtige „Gier nach Leben“ setzte bei ihnen jedoch eine neue Phase des kreativen Schaffens in Gang. Mit dem Rückzug aus dem Scheinwerferlicht der Szene Los Angeles‘ und Londons begann wider Erwarten einer der großen Mythen der Popmusik. Zwischen Sommer 1976 und Sommer 1977 entstanden in Zusammenarbeit mit dem späteren Starproduzenten Brian Eno Bowies Alben „Low“ und „Heroes“. Der kalte Sound der Entfremdung, der die Musik der beiden ausmacht, entstand in den heute noch bestehenden Hansa-Studios direkt am damaligen Mauerstreifen. Er begründete ein ganzes Genre und prägte die Musik der frühen achtziger Jahre von Bands wie Joy Division oder The Cure nachhaltig. In Berlin nahm Bowie mit Iggy Pop auch dessen berühmte Alben „The Idiot“ und „Lust for Life“ auf. „The Passenger“, Pops wohl bekanntestes Stück, ist, so heißt es, eine Hommage an die Berliner S-Bahn.
Prägend für Bowie und Pop war jedoch nicht nur der Alltag in der geteilten Stadt. Jahrzehnte nachdem er Berlin verlassen hat, wird Bowie noch auf diese Zeit, wie etwa auf seinem 2013 erschienen Album „The Next Day“, zurückblicken. In „Where Are We Now?“ besingt Bowie etwa die Nächte im damaligen Schöneberger Tanzclub „Dschungel“ („Sitting in the Dschungel on Nurnberger Straße / A man lost in time near KaDeWe“). An die damalige „Welthauptstadt des Heroin“ und die Orte der Subkultur, zu denen auch der Club „Risiko“ oder das „SO36“ zählten, denkt wohl auch Friedman, wenn sie ihre Generation wie folgt beschreibt:
„Wir haben nie an unsere Zukunft gedacht. Wenn uns die Älteren ermahnt haben, wir sollten an die Zukunft denken, haben wir nicht zugehört.“
Eine solche Attitüde wurde auch vom gegen Ende der 1970er Jahre von Großbritannien ausgehenden und schnell auch auf dem Kontinent Fuß fassenden Punk-Lebensstil vertreten. Das nicht zuletzt, weil gerade Künstler wie Iggy Pop ihn bezüglich Musik und Auftreten vorgeprägt hatten. Diese neue Jugendkultur übte mit ihrer „No Future“-Einstellung besonders auf die desillusionierte Nach-„68er“-Generation eine große Faszination aus und wurde zur bestimmenden Strömung der späten 70er und 80er Jahre in West-Berlin. Nicht nur in Szene-Kneipen, die sich oft in besetzten Häusern, wie im stadtweit bekannten „K.O.B.“ in der Potsdamer Straße 157, einrichteten, konnte man die auffällig gekleideten und frisierten Punks antreffen, sondern gerade das „Herumlungern“ und Trinken von Alkohol auf offener Straße und an ehemals ruhigen Plätzen wurde für sie charakteristisch. Heute ist nur noch wenig vom Milieu der „wilden 80er“ aus Hausbesetzern, Autonomen, Punks und Heroinsüchtigen übrig geblieben. Und trotzdem fühlt sich der oder die eine, besonders wenn jene Zeiten noch selbst miterlebt wurden, auch in der wiedervereinten Hauptstadt auf die „Insel West-Berlin“ zurückversetzt, wenn man am Eingang der U-Bahnstation nach „’nem Euro“ gefragt wird.
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