Ungehemmter Imperialismus, kolonialistische Bestrebungen verbunden mit einer populistischen Flottenpolitik oder Bismarcks Rolle bei der Ausformung des deutschen Sozialstaates stehen bei der wissenschaftlichen und medialen Betrachtung des Deutschen Kaiserreichs (1871 – 1918) häufig im Fokus des Interesses.Ein wichtiger Aspekt scheint dabei in den letzten Jahren ausgeblendet worden zu sein: Der Alltag der Menschen im Deutschen Kaiserreich. Fast könnte man meinen, dass unser heutiges Geschichtsbild dieser Epoche ausschließlich aus berittenen-uniformierten-preußischen-Soldaten mit Pickelhaube zu bestehen scheint.
Aber zwischen Militärparaden, Flottenaufmärschen und den vernichtenden Kämpfen in den blutigen Schützengräben des Großen Krieges hat es auch einen Alltag gegeben. Menschen hatten, wenn auch deutlich weniger als im 21. Jahrhundert, eine Freizeit. Es galt Geburten und Hochzeiten zu feiern, Abschiede und Tode zu betrauern. Bier floss bei all diesen Anlässen.
Kneipen bis zum Horizont
Überwiegend, aber nicht ausschließlich, tranken es Arbeiter. Selbst Kaiser Wilhelm II. wird die Aussage „Zeige mir eine Frau, die wirklich Geschmack am Bier findet, und ich erobere die Welt.“, nachgesagt. Bier gehörte zum festen Inventar des Deutschen Kaiserreichs und wurde besonders in Berlins Kneipen, Schenken, Buden, Destillen und Stehbierhallen reichlich konsumiert.
Im Jahr 1905 kamen auf jedes zweite Grundstück eine Kneipe. So idyllisch wie auf der obigen Abbildung der Stehbierhalle wurde nicht immer konsumiert. Oftmals fanden sich die Kneipen dicht gedrängt in Neben-, und Hauptstraßen. In der Friedrichstraße haben sich teilweise sogar gleich mehrere Schenken in einem Haus befunden und auf den diversen Etagen durstige Gäste bedient.
Bierverzicht als politisches Druckmittel
Auch der Tresen, heute fester Bestandteil einer Kneipe, etablierte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Berlin und trug zur Angleichung der Trinksitten an das Tempo des beginnenden Industriezeitalters bei. Das Kaiserreich war auch geprägt vom Beginn der Massenorganisationen und dem steigenden Einfluss der Sozialdemokraten. Die „Soziale Frage“ wurde verstärkt gestellt. Eindringlich manifestierte sich diese am Berliner Bierboykott des Jahres 1894. Ausgangspunkt war ein Streik der Böttcher in Rixdorf, welche den 1. Mai als Feiertag durchsetzen wollten. Daraufhin sperrten die Brauereibesitzer die Böttcher aus. Die riefen zum Boykott des Bieres bestimmter Brauereien auf. Die Arbeiter und große Teile der Berliner solidarisierten sich mit ihnen.
Gustav Stresemann: Friedensnobelpreisträger und Bierexperte
Im Dezember des Jahres 1900, sechs Jahre nach dem Bierboykott, reichte ein 22jähriger Berliner seine Promotionsarbeit zum Thema „Die Entwicklung des Berliner Flaschenbiergeschäfts“ an der Universität Leipzig ein und beendete so sein Studium der Nationalökonomie. Sein Name war Gustav Stresemann.
Im kollektiven Gedächtnis blieb er der Nachwelt vor allem in seiner Funktion als einflussreicher Politiker der Weimarer Republik. Sein Einsatz für die deutsch-französische Annäherung nach dem ersten Weltkrieg wurde 1926 sogar mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Diesen erhielt er – zusammen mit dem französischem Außenminister Aristide Brand – insbesondere für die Mitarbeit an den Locarno-Verträgen. In jenen sich die einstigen Kriegsgegner auf die Unverletzlichkeit der jeweiligen Grenzen einigten.
Seine Verbindungen zum Berliner Brauereiwesen und den unzähligen Kneipen der Hauptstadt bleiben meist unerwähnt. Dabei war Bier in den frühen Jahren seines Lebens ein prägendes Element seines Alltags. Wurde er doch, als Sohn der Berliner Biergroßhändlers Ernst Stresemann, täglich mit der Thematik „Bier“ konfrontiert. Dieser führte in der Köpenickerstraße 66 – im heutigen Bezirk Mitte – ein der typischen Berliner Eckkneipen und betrieb parallel dazu eine Flaschenbierabfüllanlage.
Zwischen Selbstabholung und Bierlieferdienst
Auch wenn seine Dissertation den Bierboykott nicht thematisiert bietet sie interessante Einblicke in in den Alltag der Konsumenten sowie in die Lage der Berliner Bierverleger und Flaschenbiergeschäfte um die Jahrhundertwende. Dazu muss man wissen, dass Bierverleger als eine Art Großabnehmer fungierten, die das Abfüllen des Bieres in Flaschen übernahmen. Zu Stresemann Zeiten war es noch üblich, dass Brauereien das Bier lediglich in Fässern abfüllten und an eben diese Bierverleger weiterverkauften. Anschließend übernahmen diese dann auch die Auslieferung in die Haushalte.
Stresemann beschrieb in seiner Dissertation anschaulich, wie und warum sich diese Bierlieferdienst wachsender Beliebtheit erfreute.
Die Scham beim Bierkauf
Seiner Auffassung nach sei es den Frauen und Töchtern unangenehm bis hin zu peinlich gewesen, Bier im benachbarten Restaurant oder der Kneipe abfüllen zu lassen, um es anschließend auf offener Straße ins heimische Domizil transportieren zu müssen. Wären dem Soziologen Norbert Elias Stresemann Ausführungen zur Scham bei der Bierbeschaffung bekannt gewesen, hätte er diese sicherlich in sein 1939 erschienenes Werk „Über den Prozess der Zivilisation – Das Vorrücken der Schamwelle“ einfließen lassen. Sei es drum.
Bier im Schützengraben
Zwischen Stresemann Aufstieg zu einem der Spitzenpolitiker der Weimarer Republik lag jedoch noch die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts – der Erste Weltkrieg. Der Maler Otto Dix, welcher sich freiwillig zum Kriegseinsatz meldete, subsumierte seine Kriegserfahrungen in seinem Tagebuch auf die Worte:„Läuse, Ratten, Drahtverhau, Flöhe, Granaten, Bomben, Höhlen, Leichen, Blut, Schnaps, Mäuse, Katzen, Gase, Kanonen, Dreck, Kugeln, Mörser, Feuer, Stahl, das ist der Krieg, alles Teufelswerk.“
Das Bier vergaß er bei dieser Aufzählung. Entweder, weil es ein zu allgemeingültiger Bestandteil des Soldatenalltags war, oder weil es nicht in diese Kette der überwiegend negativ konnotierten Begriffe passte. In den Schützengräben und Unterständen der Fronten des Krieges jedenfalls war das Bier eine willkommene Ablenkung vom allgegenwärtigem Tod und den markerschütternden Schreien der Verwundeten. Co-Autor Nicholas Johnson hat die Spuren des Biers bis an die Front verfolgt. Dabei kam er zu erstaunlichen neuen Einsichten über den Alkoholkonsum der Soldaten. Regionale Unterschiede innerhalb der Regimenter spielen bei der Größe der täglichen Ration und der Auswahl der Biersorte eine entscheidende Rolle. Mehr dazu hier.
Diese Erkenntnisse sind umso interessanter, da sie helfen könnten, die Standpunkte in aktuelleren Debatten zum Bierkonsum in der Bundeswehr bei Auslandseinsätzen besser zu kontextualisieren. Erinnert sei hier z.B. an den medialen Aufschrei im Jahr 2008. Dort wurde seitens einiger Medien angeprangert, dass allein im Jahr 2007 über eine Million Liter Alkohol (davon 990.000 Liter Bier) zur Truppenversorgung nach Afghanistan exportiert worden sind. Besonders vor dem Hintergrund der mangelnden Wasserversorgung in großen Teilen des Landes wurde dies als moralisch verwerflich gesehen. Eine Rückblick in die Geschichte wäre dieser Debatte zuträglich gewesen.
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